Rede zur Ausstellungseröffnung von stefan moses retrospektive
im Willy-Brandt-Haus am 21. August 2003
Stefan Moses
Als mich Stefan Moses bat zu seiner Ausstellungseröffnung hier zu reden, wollte ich eigentlich über die Fotografie als einzigartiges Dokument der Zeitgeschichte reden. Nachdem ich Stefan Moses davon erzählte, meinte er: Ach nö, der Stölzle ist doch da. Reden Sie doch lieber über die Ostdeutschen – das ist wichtiger.
Was konnte ich dagegen sagen?
Also rede ich über die Ostdeutschen.
Vor kurzem fragte mich eine Westberliner Werberin aus Kreuzberg: „Warum wollen Sie eigentlich schon wieder ein Foto von Stefan Moses auf dem Cover für Ihr neues Buch über die Ostdeutschen? Erklären können Sie mir das nicht,“ meinte sie ein wenig gereizt und verließ das Zimmer.
Irgendwie hatte sie sogar Recht. Erklären kann ich dies tiefe Einverstandensein mit seiner Sicht auf das Ende der DDR nicht. Denn dies Einverständnis liegt unterhalb der so handlichen Verstandessprache. Stefan Moses hatte nach dem Mauerfall einen Abschied festgehalten. Einen Abschied mit Anfang, als er 1990 aufbrach, um noch einmal in die Gesichter ostdeutscher Menschen zu sehen, bevor Zeit, neue Zeit machen würde in jenem Land, das nun als verschwunden gilt.
Unmittelbar nach dem Ende des kalten Krieges hatte er die Deutschen Ost auf sein längst legendäres Tuch gestellt, auf das er über die Jahre zuvor die Deutschen West gestellt hatte. Deutsche aus Ost und West auf ein und demselben Tuch. Sozusagen als seinen Beitrag zur Wiedervereinigung – lange bevor sie beschlossen und besiegelt war, hatte er versucht die Deutschen auf seinem grauen Tuch einander näher zu bringen. Probeweise sollten sie auf gleichem Grund stehen. Das war auch ein Angebot zur Versöhnung, denn es gibt nur eine deutsche Geschichte.
Als die auf seiner Reise entstandenen ostdeutschen Porträts, ein Jahr später im Deutschen Historischen Museums zu sehen waren, war die deutsche Einheit schon vollzogen. Die Teilung Deutschlands war formal politisch jedenfalls aufgehoben. Aus jenem „Abschied mit Anfang“ war in der Zwischenzeit eine Ausstellung „Abschied und Anfang“ geworden.
Denn Stefan Moses hatte es geschafft, eben diese winzige Spanne zwischen „Nicht-mehr“ und „Noch-nicht“ in den ostdeutschen Gesichtern festzuhalten. Diese kleine Spanne, in der die Ostdeutschen schon dachten, es sei vorbei, und zwar für immer, hatte er festgehalten: Diese kurze Zeit, in der sie frei waren, frei im absoluten Sinne. Dieser so rasch schwindende Augenblick, der aufscheint bei jedem historischen Bruch: Unbegrenzt nach allen Seiten, da alles möglich scheint, bevor eine Richtung wieder überhand nimmt. Dieser kurze aber nachhaltige Moment absoluter Freiheit, der nicht weit vom Schrecken der Beschränkung wohnt. Zur Erinnerung für die Westdeutschen und als Aufforderung für die Ostdeutschen loszugehen, hatte Stefan Moses sein Tuch noch einmal ausgelegt.
Nur ein Jahr später folgerichtig schon ins Museum gestellt, konnte man noch einmal in diese erwartungsvollen Gesichter sehen. Neugierig guckten sie aus ihren Nischen, in die sie sich zurückgezogen hatten, um den Zumutungen der sozialistischen Orthodoxie zu entgegen. Fragend sahen sie, ob alles nur ein Film war, in den sie da geraten waren und der daher irgendwann abgebrochen werden könnte, zum Beispiel, weil das Geld nicht reichte, um neues Filmmaterial zu kaufen. Diese staunenden Gesichter, waren ein Jahr nach dem Mauerfall längst andere geworden – und das nicht, nur weil sie bereits im Museum hingen. Die unbegrenzte Hoffnung, dass nun endlich werde, was all die Zeit davor zu werden keine Chance hatte, hatte nur ein Jahr später bereits ins Irdische zurückgefunden. Denn die Ostdeutschen waren nicht im Paradies, sondern nur in der Bundesrepublik angekommen.
Vielleicht verhängte Stefan Moses auch deshalb die sozialistischen Denkmäler aus Deutschland Ost mit demselben grauen Tuch, auf das er seine Deutschen West gestellt hatte über die Jahre. Als Spurensuche nach deutscher Identität sozusagen? Auf jeden Fall war das eine der Botschaften von Moses, die man wieder hinaustragen konnte aus dem Deutschen Historischen Museum: Denn es gibt nur eine deutsche Geschichte. Sie fand an einem historischen Ort statt, selbst wenn dieser Ort zeitweilig durch Mauern getrennt war.
Jahre sind vergangen seither. Die ostdeutschen Gesichter sind mehrfach andere geworden. Die Erkenntnis, dass das Paradies – und sei es nur als blühende Landschaft – selbst gestaltet werden muss, soll es auf Erden stattfinden, hat sich mehr und mehr herumgesprochen – erfreulicherweise nicht nur bei den Ostdeutschen. Denn seitdem der Sozialstaat auf Grund wirtschaftlicher Stagnation in Deutschland nicht mehr zu finanzieren ist wie bisher, nähern sich auch viele Westdeutsche der Einsicht, dass sich einiges ändern muss, damit es zumindest in etwa bleibt, wie es ist – sozial und gerecht.
Und hierbei können die Ostdeutschen wirklich einiges an Erfahrungen einbringen. Denn soziale Veränderungen und Umbrüche durchzustehen haben sie in den letzten 13 Jahren trainiert. Vielleicht liest man auch deshalb in statistischen Erhebungen vergangener Monate über die deutsch-deutschen Befindlichkeiten, dass die Ostdeutschen weniger depressiv sind als Westdeutschen. Denn sie sind widerstandsfähiger geworden, insbesondere mit sozialen Veränderungen umzugehen.
Und so antworteten mir viele Ostdeutsche in Interviews zu meinem neuen Buch („Im Westen was Neues?“) auf die Frage: „Können sich die Ostdeutschen bei der Bewältigung der augenblicklichen Wirtschaftskrise in Deutschland produktiver einbringen als die Westdeutschen, erstens: „Die Ostdeutschen können der Krise erst einmal lockerer entgegensehen. Sie haben schon einiges durchgemacht. Und: Sie haben nicht so viele Besitzstände, also auch nicht so viel zu verlieren.“ Und zweitens, sagten viele der Befragte ich zitiere einen Bankangestellten: „Wenn zum Beispiel Personal abgebaut werden muss, verstehen unsere Mitarbeiter damit besser umzugehen, als die Mitarbeiter in den alten Bundesländern. Unsere Mitarbeiter sind veränderungsfähiger und auch williger. Ich höre von Kollegen immer wieder, dass es in den alten Bundesländern sehr viel mühseliger ist, die Leute zu Veränderungen zu bewegen, weil sie schon 30 oder 40 Jahre an ein und demselben Platz sitzen und den gleichen Job machen. Wenn ich dagegen mein Team ansehe, gibt es niemanden, der vor fünf Jahren den Job machte, den er heute macht“.
Die Ostdeutschen haben also einiges aus ihren Erfahrungen im Umgang mit Brüchen und Umbrüchen gelernt und können sehr wohl einen konstruktiven Beitrag zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise in Deutschland einbringen.
Hatte Stefan Moses diesen Umstand vorher gesehen, als er die Deutschen Ost und West auf ein und dasselbe Tuch stellte? Auf jeden Fall wollte er beiden die gleiche Chance geben, aufeinander zuzugehen. Er sei er doch immer auch eine Ostseele. Das könne ich ruhig überall sagen, meinte er einmal. Er schäme sich manchmal sogar für seine verrückte Deutschlandliebe, wenn er vom Anzünden des zigsten Asylheims hört.
„Das Deutsch-Sein und seine Schwierigkeiten“ bleibe schwierig, sagte er. Deshalb wollte er die Deutschen stets begleiten auf ihrer Reise von einer Zeit in die andere und stellte sie gleich nach dem Mauerfall 1989 auf ein und dasselbe Tuch.
Ja, auch dafür möchte ich mich bei ihm bedanken.
Berlin, den 21. August 2003
Rita Kuczynski