Auch der Westen muss sich anstrengen - PATRIK SCHWARZ in der taz Nr. 7145 vom 1.September 2003
taz Nr. 7145 vom 1.9.2003
Seite 13, 48 Zeilen
Kommentar von PATRIK SCHWARZ
Auch der Westen muss sich anstrengen
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Merkels Stoßrichtung darauf zu schieben, dass sie aus dem Osten kommt, wäre billig. Zumal von einem neuen Bild des Ostens vor allem der Westen profitieren würde. Wenn nichts so bleiben kann wie es ist - wie die Reformrhetoriker uns stets versichern -, dann können die Ostler ihren Brüdern und Schwestern ein Vorbild sein. Schließlich wurden sie nach 89 Pioniere im Totalumbau einer Gesellschaft, die nicht länger überlebensfähig war. Einiges spricht dafür, dass der Gedanke nicht auf Merkels Partei beschränkt bleibt. Bei einem Vortrag im Willy-Brandt-Haus vertrat neulich die Publizistin Rita Kuczynski ähnliche Thesen. Zu ihren Füßen saß der Kanzler und nickte stumm. Der Tipp sei gewagt: Lange wird es nicht dauern, bis die Überlegung in einer seiner Reden zur Agenda 2010 auftaucht. "
Neunzehnmal der fremde Blick - Christoph Dieckmann in DIE ZEIT 18/2005
Christoph Dieckmann in DIE ZEIT 18/2005
Neunzehnmal der fremde Blick
Rita Kuczynski hat Deutschlandexperten aus Ost und West über ihre Ansichten zur DDR befragt
Deutschlands Nabel, international beschaut, das bietet Rita Kuczynskis drittes Interviewbuch über die ostdeutsche Übergangsgesellschaft. Die Rache der Ostdeutschen (2002) hatte PDS-Wähler befragt, Im Westen was Neues – Ostdeutsche auf dem Weg in die Normalität (2003) gab jenen Ostlern Stimme, die sich, wie es so schwülstig heißt, in der Einheit angekommen fühlen. Diesmal holt die Autorin weiter aus und versammelt die Ansichten so genannter Deutschlandexperten, die, mit drei Ausnahmen, sämtlich aus früheren Ostblockstaaten stammen.
Das Buch macht ein bisschen eifersüchtig. Sein (ost)deutscher Leser fühlt sich wie ein Bauer, dem Durchreisende das eigene Dorf erklären. Neunzehnmal der fremde Blick, dreihundert Seiten lang. Manch rigoroses Urteil und Klischee, doch die fundierte Analyse überwiegt. Wenig Sympathie und keine Komplimente für den Osten, nicht mal für die friedliche Revolution. Das ist wohl die retrospektivische Strafe für den einstigen moskowitischen Musterschüler DDR. Ein »Furz der Geschichte« sei sie gewesen, findet Adam Krzeminski, während »die volkspolnische Zeit durchaus in der polnischen Geschichte eine Phase« bilde. Ah, diese ostgeschwisterliche Wärme kennt man aus voriger Zeit. Gern reduzierten die lieben Brudervölker die DDR, bekanntlich ausnahmslos besiedelt von Partei-Kamarilla und preußischen Duck-Mäusern, auf eine Transitzone zum richtigen Deutschland: dem Westen.
Der Titel ist ein Summary des Buchs. Verblüfft nimmt man zur Kenntnis, dass schier weltweit die deutsche Teilung immer nur als Provisorium galt – außer in der DDR und der Bundesrepublik. »Deutschland ist Deutschland und muß Deutschland sein«, dekretiert Estlands Expräsident Lennart Meri. Ängste ob der Vereinigung? Keine, nirgends. Der Rechtsradikalismus, die Untaten à la Rostock und Mölln? Bedauerlich, doch anderseits nicht unnormal; in Osteuropa sei man derlei gewohnt.
Rita Kuczynski hat all ihren Gesprächspartnern dieselben Fragen gestellt: nach PDS und Gauck-Behörde, nach der Ostalgie, nach dem Verhältnis zu den USA… Fast durchweg wird die Ablehnung der Bush-Administration mit Antiamerikanismus gleichgesetzt; ebenso auffällig ist die permanente Verwechslung von SED-Regime und ostdeutscher Lebenswelt. Die zentrale Frage lautet: »Halten Sie es für ein Glück oder ein Handicap, daß die Ostdeutschen, im Gegensatz zu Ihrem Land, eine Bundesrepublik hatten, der sie sich anschließen konnten?« Sowohl als auch, das ist der Tenor der Erwiderungen. Von der D-Mark bis zum EU-Beitritt hätten die Ostdeutschen alles geschenkt bekommen (was im Fall der D-Mark vielleicht nicht ganz stimmt). Andererseits hätte dieser westgesteuerte Gesellschaftsumbau die Entfaltung eigener Gesellschaftskräfte unterbunden. »Damit haben sich die Ostdeutschen in eine parasitäre Lage gebracht«, findet Sonja Margolina und beklebt die Ossi-Parasiten mit dem Gattungs-Etikett »homo sowjeticus«. Nur der Übervater sei gewechselt worden. »Insofern braucht man auch keine eigene Elite in Ostdeutschland.«
Dies ist nicht das Niveau des Buchs. Der Bulgare Alexander Andreev benennt ein zentrales Problem: Die Ostdeutschen haben keine eigenen Medien; ihre Öffentlichkeit wird vom Westen bebildert und beschallt. Allerdings war der Französin Anne-Marie Le Gloannec schon bei DDR-Besuchen aufgefallen, dass sich die Ostdeutschen ständig via Bundesrepublik orientierten und definierten. Ergo, mit dem Engländer Richard J. Evans: »Den Ostdeutschen fehlte eine starke Identität, die bekamen sie erst ironischerweise nach der Wiedervereinigung.« Der Rumäne Andrei Plesu, eine weise Stimme, findet die Ostdeutschen den Polen, Tschechen und Rumänen ähnlicher als ihren West-Landsleuten. Der Fluss der bürgerlichen Gesellschaft sei abgebrochen; das bedeute eine Identitätsänderung. – Ansonsten gilt die so genannte Ost-Identität schlicht als Post-Wende-Fabrikat des Heimwehs nach einer DDR, wie es sie nie gegeben hat. Das ist so wahr wie ein alter Hut.
Zu schlimmer Letzt müssen sich die ostdeutschen Bürgerrechtler auch noch ein Gitterbettchen mit den DDR-Marxisten teilen. Nach 1968 sei der Marxismus nur noch in der DDR ernst genommen worden, erklärt der Pole Wlodzimierz Borodziej. Sein heiterer Landsmann Krzeminski verneint jede politische Gemeinsamkeit mit der DDR-Opposition. Wie hätten papstgläubige Polen sich verständigen sollen mit Leuten, die bis zum Mauerfall von Rosa Luxemburg schwärmten und die DDR verbessern wollten? Das bleibt nun den Erinnerungsvergoldern vorbehalten, mit wachsendem Erfolg. »Die kleinen Nationen sind gewöhnt, sich auch von außen zu sehen«, sagt der Ungar György Dalos, einer der frischesten Beiträger. »Sie sehen daher auch ihre Schwächen und das Sterbliche an einer Nation. Ich glaube, daß diese Distanz der großen Nation Deutschland fehlt.« Hierzu, das ist nicht wenig, hilft dieses Buch.
Deutschland ist kein Vorbild mehr - Jan Puhl in DER SPIEGEL 5/2005
Jan Puhl in DER SPIEGEL 5/2005
Deutschland ist kein Vorbild mehr
Bei ihren osteuropäischen Nachbarn gelten Deutsche als unflexibel und wehleidig - aber nicht mehr als bedrohlich. Das ist eine Quintessenz des Interviewbandes "Ostdeutschland war nie etwas Natürliches". Herausgeberin ist die Berliner Publizistin Rita Kuczynski, Ex-Schwiegertochter des 1997 verstorbenen DDR-Intellektuellen Jürgen Kuczynski. Die 60-jährige Autorin befragte Kollegen, Journalisten und Gelehrte unter anderem aus Polen, Rumänien, der Slowakei, Estland, Russland, Bulgarien sowie Slowenien zum wiedervereinigten Deutschland, und es zeigte sich: Die Bundesrepublik, einst zumindest wegen ihrer Wirtschaftskraft geschätzt, ist kaum noch Vorbild. "Die Deutschen sind verwöhnt, sie denken tatsächlich: Wir sind die Besten", sagt etwa der Journalist Urmas Klaas aus Estland. Dabei liege das Bildungssystem im Argen, es gebe zu viel Bürokratie und zu wenig Flexibilität. Klagen über Armut und Perspektivlosigkeit aus den fünf neuen Bundesländern stoßen auf Unverständnis. "Die Ostdeutschen haben sich annektieren lassen und waren zunächst ganz zufrieden mit der Deutschen Mark und mit der Banane. Die anderen postkommunistischen Staaten fühlen sich vor den Kopf gestoßen, wenn sie die Ostdeutschen jammern hören", erklärt der bulgarische Publizist Alexander Andreev. Die Nachbarn, so der Tenor, hätten die Umbrüche seit 1989 ganz alleine durchstehen müssen, ohne "reichen Onkel" im Westen, wie der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej sagt. Durchweg positiv beurteilen Kuczynskis Interviewpartner hingegen die Birthler-Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit.
Angst vor deutschen Großmacht-Ambitionen oder vor Revisionismus äußert keiner. Die Wiedervereinigung wird überwiegend als eine historische Notwendigkeit ohne Alternative gewertet. Drastisch bringt es der polnische Publizist Adam Krzeminski auf den Punkt: Die DDR sei letztlich ein "Furz der Geschichte" gewesen.
Lernen und lernen lassen - Dagmar Günther www.vorwaerts.de am 1.4.2005
Dagmar Günther in www.vorwaerts.de am 1.4.2005
Lernen und lernen lassen
Rita Kuzcynski hat wieder überaus interessante Interviews geführt. Und diesmal wechselte sie die Perspektive. Gaben ihr in den Büchern "Die Rache der Ostdeutschen" (2002) und "Im Westen was Neues – Ostdeutsche auf dem Weg in die Normalität" die Ostdeutschen Auskunft über ihre Befindlichkeiten im Zusammenhang mit dem Mauerfall, der deutschen Einheit und dem wachsenden Europa, kommen nun die zu Wort, die von all dem mindestens genauso betroffen sind: nämlich Menschen aus Frankreich, Großbritannien, den USA, Estland, Bulgarien, Polen, Rumänien, Russland, Slowenien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Rita Kuczynski hat in allen Ländern Deutschlandkenner gesucht und gefunden. Die ältesten, der tschechische Historiker Bedrich Loewenstein und der ehemalige estnische Staatspräsident Lennart Meri, sind Jahrgang 1929, der jüngste, der rumänische Wissenschaftler Theodor Paleologu, ist Jahrgang 1973. Es überwiegt jedoch die Altergruppe der 45- bis 60-Jährigen. Sie alle fördern Erstaunliches zutage, wie dem Klappentext zu entnehmen ist: "1. Die ehemaligen DDR-Oppositionellen und auch der Westen haben die Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung idealisiert. 2. Eine Bedrohung der Welt durch ein wiedervereinigtes Deutschland gab es nicht. 3. Die deutsche Demokratie war durch Nazis nie gefährdet. 4. Die ökonomischen Startbedingungen bei der Eingliederung der Ex-DDR in die westeuropäische Wirtschaft waren wirklich nicht so extrem schwierig, wie oft behauptet.
Auch wenn sich die Texte im Buch dann doch etwas differenzierter lesen. Die Richtung stimmt wohl. Und so muss auch die Präsidentin der Europa-Universität Viadrina Gesine Schwan in ihrem Vorwort einräumen: "Was die Experten dann allerdings in den Interviews über die Entwicklung in Ostdeutschland und den mental-moralischen Zustand der Ostdeutschen sagen, dürfte diesen nicht unbedingt schmeicheln." Den Ostdeutschen ist zu viel geschenkt worden – vom Rechtsstaat, über den Aufbau Ost bis zur EU-Eingliederung, darin sind sich die Interviewten einig. Und auch wenn bei einigen ein wenig Neid auf den für sie nicht vorhandenen westlichen Bruder mitschwingt, so trauern sie dem keineswegs nach. Im Gegenteil, sie sind stolz, aus eigenen Kraft den Neuanfang nach dem Zerfall des Sozialismus geschafft und eine eigene Identität entwickelt zu haben. "Wichtig war für uns, dass wir für diese Ziele hart arbeiten mussten und dass wir nichts umsonst bekamen. Daher sind wir glücklicher als die Ostdeutschen", sagt z.B. des Este Urmas Klaas, Abteilungsleiter im Ministerium für Bildung und Wissenschaft. Die französische Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Le Gloannec freut sich, wie wohl alle Befragten, über die gelungene deutsche Einigung. Doch sie fragt auch: "Hätten die Westdeutschen nicht die Chance nutzen sollen, um auch in Westdeutschland Reformen einzubringen?" Und sie bedauert die Arroganz der Westdeutschen und das falsche Bild der Ostdeutschen von Westdeutschland Es gab gewiss so manches Nachahmenswerte im Osten, über das wenigstens hätte nachgedacht werden müssen. Aber in unsicheren Zeiten seien eben auch "feste Strukturen notwendig" gewesen.
Gesine Schwan weist auf eine "merkwürdige Doppelwahrnehmung" in der bundesdeutschen Rezeption hin, die auch in den Interviews mehrfach angesprochen wird: "Die Einheit Deutschlands und das Ende der Kommunistischen Diktatur" werden oft als "zwei verschiedene Phänomene" gesehen. "Die deutsche Einheit mit allen ihren Fogediskursen primär sozial- und wirtschaftspolitischer Natur läuft parallel zur Diskussion um die notwendigen politischen Veränderungen im geeinten Europa, die sich eher um das Stichwort der Gorvernance ranken." Es passiere eine "Entkoppelung im Denken" und es bleibe zu wenig Zeit und Kraft für "den weiteren Blick auf die neue Topografie der europäischen Landkarte".
Urmas Klaas fordert ganz offen: "Die Europäische Union sollte unbedingt die augenblickliche Unschuld der neuen Länder nutzen. Auf Grund dieser Unschuld können wir einiges zusammendenken und zusammenbringen, was den jahrzehntelangen Gewohnheiten der alten EU widerspricht und die EU voranbringen könnte."
Also weg von der deutsch-deutschen Nabelschau hin zur europäischen Sicht! Rita Kuczynski leistet mit ihrem neuen Buch dazu einen wichtigen Beitrag.
Im Westen was Neues, 2003, Parthas-Verlag
Im Westen was Neues, 2003, Parthas-Verlag
Von Henryk M. Broder, SPIEGEL SPECIAL 3/2003
MUT ZUM WECHSEL
Rita Kuczynski hat die Geschichten ehemaliger DDR-Bürger gesammelt, die den Sprung ins größere Deutschland oder ins Ausland geschafft haben.
Der Ossi als solcher jammert gern, geht der Arbeit möglichst aus dem Weg und denkt am liebsten über seine Identität nach, die ihm mit der Wiedervereinigung abhanden gekommen ist. Er ist im Grunde gutmütig, und wenn er mal böse wird, dann wählt er die PDS, um sich an den Wessis für das erlittene Unrecht zu rächen. So ist der Ossi, so kennen wir ihn, so haben wir ihn gern. Was aber machen wir mit denjenigen, die anders sind? Wir ignorieren sie.
Die Wähler in den neuen Bundesländern wählen zu 80 Prozent nicht die PDS. Sie sind "medial uninteressant", sagt Rita Kuczynski, 59, denn "sie verhalten sich so wie die übergroße Mehrheit der Bundesbürger in den alten Ländern". Die Berliner Hegel-Expertin arbeitet seit der Wende an Projekten im philosophischen Diesseits: Wie ticken die Ostdeutschen, und was unterscheidet sie, wenn überhaupt, von den Westdeutschen?
Vor einem Jahr legte sie ein Interview-Buch vor ("Die Rache der Ostdeutschen"), in dem 20 Ost-Berliner Wähler begründeten, warum sie die PDS gewählt hatten. Der Witz bei der Sache lag darin, dass es nicht gescheiterte Existenzen oder alte Parteisoldaten, sondern zum großen Teil Wendegewinnler waren, denen es besser ging als je zuvor und die sich trotzdem diskriminiert fühlten. Nun kommt die Fortsetzung der Saga auf den Büchertisch: 18 Gespräche mit ehemaligen Bürgern der DDR, die bei der letzten Bundestagswahl nicht die PDS gewählt haben, für die der Fall der Mauer auch ein persönlicher Glücksfall war und die "rückblickend froh sind, dass sie nun in der Bundesrepublik leben".
Wie immer und überall im Leben geben Menschen, die sich darüber beschweren, dass es ihnen gut geht, mehr her als solche, die zufrieden sind und nur auf punktuelle Missstände hinweisen. Deswegen war der erste Band wesentlich unterhaltsamer, während der zweite eine Position variiert: "Danke der Nachfrage, ich bin in der Bundesrepublik gut angekommen." Es ist, als würde sich ein Reporter auf einem Flughafen hinstellen und darüber berichten, dass ein Flugzeug nach dem anderen problemlos gelandet ist. Eine anständige Story käme aber nur dann zu Stande, wenn ab und zu ein Flieger abschmieren oder wenigstens das Fahrwerk verlieren würde. Only bad news are good news.
Rita Kuczynski will freilich auf etwas anderes hinaus. Die Westdeutschen könnten einiges von den Ostdeutschen lernen, die sind flexibler, kommen mit Krisen besser zurecht und geraten nicht in Panik, wenn sie alte Gewohnheiten aufgeben müssen. Sie haben es gelernt, mit weniger auszukommen und den Mangel gerecht zu verteilen. Was die Ostdeutschen hinter sich haben, das haben die Westdeutschen noch vor sich: die Erfahrung eines Umbruchs.
"Die westdeutschen Politiker heute sind fast alle nach dem Krieg geboren", meint eine Mathematikerin, die nach der Wende ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden war, "sie sind die Wohlstandskinder der Bundesrepublik, sie haben nie wirklich harte Zeiten erlebt und keine der beiden deutschen Diktaturen."
Und noch etwas ist ihr aufgefallen: "Die West- und die Ostlesben gehen sich ... aus dem Wege. Man erkennt sich, aber man kommt nicht zusammen."
Ein Ökonom, der in der DDR Suaheli gelernt und über die wirtschaftliche Entwicklung Tansanias seine Diplomarbeit geschrieben hatte, war nach dem Mauerfall erst einmal "fassungslos", er war "mit der Mauer aufgewachsen, sie war so von Gott gegeben": Doch er kam bald wieder zu sich, schlug ein Angebot aus, Bezirksleiter bei Aldi zu werden, und machte Karriere bei einer Bank, die ihn zuerst in die USA und dann nach Moskau schickte. Heute arbeitet er in leitender Funktion in Leipzig und möchte, dass die 40-Stunden-Woche wieder eingeführt wird, "und zwar bei gleichen Rahmenbedingungen". Angst vor der Zukunft kennt er nicht, obwohl er der Regierung nicht zutraut, mit der Krise fertig zu werden.
"Veränderung hat bisher zu meinem Leben gehört, und ich habe auch immer Spaß daran gefunden. Ohne Veränderungen würde mir etwas fehlen." Ein Handwerker, der vor der Wende in Thüringen eine kleine Keramikwerkstatt betrieb, machte mit einem chinesischen Bekannten eine Firma in Peking auf, zog später nach Hongkong und reiste dann "kreuz und quer durch China", wo er seine Produkte "erfolgreich" verkaufte. Heute ist ihm klar: "Ich war viel zu lange im falschen System, und es ist schade, dass ich nicht schon früher den Mut zum Wechsel hatte. Aber nun bin ich da, wo ich hin wollte ..."
Auch wenn die Geschichten, die Rita Kuczynski aufgeschrieben hat, nicht repräsentativ sind, es sieht aus, als hätten Ostdeutsche das Talent, Gelegenheiten im Vorübergehen zu ergreifen, während Westdeutsche eher dazu neigen abzuwarten, bis sie an der Reihe sind. Nicht auszudenken, was aus der DDR geworden wäre, wenn sich solche Begabungen beizeiten hätten entfalten können.
Von Utopien und Visionen wollen sie nichts mehr wissen. Einige sorgen sich, aus der Bundesrepublik könnte eine zweite DDR werden, unbeweglich und unreformierbar. Jetzt geht es darum, das Machbare zu verwirklichen. Nur eine Historikerin, die in Rostock über Feudalismus forschte und lehrte und bis zum Schluss in der SED aktiv war, wünscht sich mehr: "Das Ende der Postmoderne, das Ende der unbeschränkten Herrschaft der USA und das Ende der Autogesellschaft."
Gott sei Dank, es gibt noch Ossis, die das Träumen nicht verlernt haben.
HENRYK M. BRODER