Einsicht in die Notwendigkeit
Rezension zu Lothar Bisky: So viele Träume. Mein Leben. (Rowohlt Berlin, Berlin 2005. 320 S., 19,90 Euro)
Lothar Bisky hat eine beeindruckende Autobiografie geschrieben. Beinahe idealtypisch gibt sie Auskunft über Leben und Streben eines DDR-Kommunisten. Wenn das deutsch-deutsche Gezänk irgendwann einmal abgeklungen ist, sollte sie als Schulstoff gelesen werden. Das Bestechende an dieser Biografie ist die Aufrichtigkeit, mit der Lothar Bisky sein Leben in die DDR stellt. Der Bezug ist nicht die Welt, sondern das deutsch-deutsche Planetensystem und das genügt sich bekanntlich selbst. Nur zufällig kommt da die Welt rein und stört die ansonsten eigentlich freie Entwicklung auf volkseigenem Grund.
Bisky, Sohn eines Molkereigehilfen und einer Tagelöhnerin, vertrieben aus Hinterpommern, landet als Flüchtlingskind in der Nähe von Schleswig, Gemeinde Brekendorf. Wie andere Flüchtlinge auch wird er als "armes Pack" im Dorf ausgegrenzt. Bettelarm muss er frühzeitig hart arbeiten. Als er eines Tages vor Erschöpfung im Unterricht vom Stuhl fällt, besorgt die Oberschule ihm ein Stipendium. Er schlägt das geschenkte Geld aus. Es demütigt ihn. Die Frage: Warum es Arme und Reiche gibt, beginnt ihn umzutreiben. Auf der Suche nach Antwort bricht er aus und geht in den anderen Teil Deutschlands: in die DDR. Hier will er die "neue Welt" aufbauen und "träumte von einer Gesellschaft der Chancengleichen". Er lebt sich ein, studiert in Berlin und Leipzig marxistisch-leninistische Philosophie, dann Kulturwissenschaft. Hier ist man stolz auf jedes Arbeiter- und Bauernkind. Die DDR versteht er daher als historische Hoffnung. Diese kann auch durch den Mauerbau nicht erschüttert werden.
"Den 13. August 1961", so schreibt Bisky, "habe ich von Ferne in einem Kinderferienlager zur Kenntnis genommen." Dort war er zwanzigjährig als Helfer tätig. "Wir waren so sehr mit Geländespielen und Schnitzeljagen beschäftigt, dass uns die Tragweite des Ereignisses damals kaum bewusst wurde." Später hat Bisky dann politische Zweifel über den Mauerbau allesamt vertrieben, und zwar mit der "Einsicht in die Notwendigkeit", die laut Friedrich Engels Freiheit sein soll.
Mit solch kommunistischer Tugend fürs Leben ausgestattet, hatte Bisky alle Chance in der eingemauerten DDR "sozialistischer Kader" zu werden: Bestenförderung, Karl-Marx-Stipendium, Mitarbeiter des Instituts für Jugendforschung, wo auf Grund seines persönlichen Engagements auch die Rockgruppe "Pudhys" den Preis für Unterhaltungskunst in der DDR glücklicherweise doch noch bekam.
Von weltpolitischen Ereignissen, wie dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts und der brutalen Niederschlagung der Reformbestrebungen in Prag 1968 erfährt der Leser nur, dass Biskys Rückreise aus dem Sommerurlaub in Ungarn beschwerlich war. Denn sein Zug machte aus Sicherheitsgründen eine lange Irrfahrt durch die Ukraine, bevor er, Bisky, in der DDR von Grenzsoldaten mit Brötchen begrüßt wurde. Seine Reaktion auf Prag 68 war: "Ich stürzte mich in die wissenschaftliche Arbeit. Das war", so bekennt Bisky heute, "eindeutig falsch". Mehr erfährt der Leser über eventuell aufkommende Zweifel Biskys zum Einsatz von Panzern im Prager Frühling nicht. Wahrscheinlich aus Einsicht in die bekannte Notwendigkeit eines DDR-Kommunisten, die seine Freiheit ist.
Dafür erfährt der Leser, dass Bisky 1969 zum Thema "Massenkommunikation und Jugend" promoviert. Er wird Reisekader, Abteilungsleiter im Institut für Jugendforschung, also das Übliche für einen DDR-Kader. Er erfindet die Medienwissenschaft für die DDR, definiert sich als kritischen Marxisten und redet auf internationalen Kongressen über Theorie der Medien, weil die empirischen Forschungsergebnisse seines Institutes so geheim waren, "dass sie weder auf einer nationalen, geschweige denn auf einer internationalen Konferenz mitgeteilt werden durften." Die Absurdität solcher Geheimniskrämereien beunruhigt ihn auch als Medienwissenschaftler nicht wirklich - aus Einsicht in die freie Notwendigkeit.
Irgendwann forscht er an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED über Massenmedien. Anschließend wird er Rektor der Filmhochschule. Dort erlebt er - ein wenig aufgemuntert von den Studenten, die ihn liebten - den Zusammenbruch der DDR, den er durchgängig Wende nennt, nicht Zusammenbruch oder Implosion eines wirtschaftlich und moralisch verschlissenen Systems. Nur wenn Bisky von den Akteuren dieser Wende sprich, nennt er die Wende plötzlich "friedliche Revolution." Denn so erfährt der Leser nun: "Die ,friedliche Revolution' in der DDR wurde von zwei Seiten getragen. Zum einen von den gegen die erstarrten politischen Verhältnisse kämpfenden Mitgliedern der Bürgerbewegung, den reformorientierten Mitgliedern der SED, später SED/PDS, der Blockparteien, der Gewerkschaften, des Kulturbundes, der FDJ und der Frauenbewegung. Auf der anderen Seite von denjenigen, in deren Besitz die Instrumente der Repression lagen. Dass bei so grundlegenden Veränderungen kein Tropfen Blut geflossen ist, . ist auch der Vernunft jener zu danken, die über die Waffengewalt verfügten und sie nicht angewendet haben."
Auch hier bleibt die Welt also konsequent ausgesperrt. Angefangen von der Sowjetunion, die das ihr aufgezwungene Wettrüsten nicht durchhalten konnte und die, um sich selbst zu retten, die DDR als Vorposten bereit war aufzugeben, bis hin zu dem Jahrzehnte langen Kampf um die Menschenrechte in anderen politisch etwas muntereren und mündigeren sozialistischen Ländern. Kein einziges Wort über die Charta 77, über Solidarnosc 1981, über Kriegsrecht in Polen, über die schrittweise Normalisierung des Reiseverkehrs in anderen sozialistischen Ländern. Selbst über die Grenzöffnung zu Ungarn 1989, als Voraussetzung für die Massenflucht sozialistischer Menschen, kein Wort. Der durch Mauern geschützte Sonnenstaat namens DDR speiste seine friedlichen Revolutionsenergien aus sich heraus.
Erst "als die Westparteien Partner in der DDR suchten" änderte sich das politische Reformklima, schreibt Bisky. Mit anderen Worten: Der Westen Deutschlands hat die friedliche DDR-Revolution kaputt gemacht. Das ist konsequent sonnenstaatlich gedacht. Kein Wort über die erste demokratische Wahl im März 1990 zur Volkskammer der DDR, die ein großer Erfolg der "Allianz für Deutschland" war; also dem Wahlbündnis der CDU, das 48 Prozent der Wählerstimmen bekam - während die SPD nur 21,9 und die PDS 16,4 Prozent erhielt. Erst "mit dem Grundgesetz kam das Ende der Reformen" ist der kühne logische Schluss Biskys. Den verstehe, wer will.
"Die DDR - das war mein Leben", sagt Bisky 1990 zum Tag der deutschen Einheit und fragt rhetorisch: "War mein Leben jetzt zu Ende?" In seinem Arbeitszimmer hing damals ein Filmplakat: "Alles wird gut!"
Für ihn ist vieles gut geworden. Er wurde Vorsitzender der PDS, bleibt es länger als zehn Jahre. Er trauert der DDR nicht nach. Seine ehemaligen Studenten und "seine drei Söhne haben gute Entwicklungschancen in einem weltoffenen demokratischen Land und nutzten sie."
War es etwa die Notwendigkeit zur Freiheit, die seine "Kinder" nach dem Niedergang der DDR als ihre Chance verstanden haben?