Berliner Zeitung, in der Reihe Agenda 2020 vom 28. Oktober 2003
Frischer Reis am alten Leninplatz
Rita Kuczynski
Über die Zukunft spricht hier keiner gern - jedenfalls nicht bei der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Friedrichshain. Dabei fing alles ganz harmlos an. Die Verwalterin des höchsten Hochhauses am Platz der Vereinten Nationen, der zu einer anderen Zeit Leninplatz hieß, wohnt im selben Haus, in dem auch ich seit zwei Jahren wohne. Eigentlich ist sie sonst recht entgegenkommend und zu einem gelegentlichen Schwätzchen gern bereit. Aber als ich sie diesmal im Fahrstuhl traf und sagte, dass ich mit ihr gern über die Zukunft des Hochhauses sprechen würde, winkte sie sofort ab. Das dürfe sie nicht ohne die Genehmigung ihrer Geschäftsleitung. Wir verblieben so, dass ich bei ihrer Geschäftsführung um eine solche Genehmigung nachfragen würde. Gesagt. Getan. Ich rief die Wohnungsbaugesellschaft, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit an. Ich wurde von Amt zu Amt verbunden. Nach etwa zehn Minuten hin und her schlug man mir vor, es morgen noch einmal zu versuchen. Man wollte sich erkundigen, wer für diese Frage zuständig sei. Am vierten Tag eines endlosen Hin und Her teilte man mir mit, man berate noch, wer, wenn überhaupt, mit mir sprechen könne. Meine Hausverwalterin jedenfalls sei dazu nicht befugt.
Zurückgeworfen auf mich und auf die wenigen Hinweise, die ich auf der Website der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain fand, musste ich über die Zukunft des Hauses am Platz der Vereinten Nationen, der früher Leninplatz hieß, vorerst also allein entscheiden.
Das Haus mit seinen 25 Stockwerken wird entgegen vielen Erwartungen im Jahr 2020 nicht verslumt oder gar abgerissen sein. Im Gegenteil, es wird unter Denkmalschutz stehen. Die "einst bedeutenden sozialistischen Kader", die zwischen 1970 und 1975 in die obersten Geschosse meines Hochhauses einziehen durften, eben weil sie so bedeutend waren, werden ausgezogen sein - Gott, an den die wenigsten glaubten, sei ihrer armen Seelen gnädig. Eine alte, aber keineswegs verwirrte Frau flüsterte mir dies Hausgeheimnis mal ins Ohr. Denn auch ihr wurde 1972 immerhin im 22. Stock direkt von der DDR-Regierung eine Wohnung zugewiesen. Sie sagte das nicht ohne Stolz und bedauerte mich ein wenig, dass ich 2001 nur in den 3. Stock einziehen durfte.
Die alte Frau hat nicht mehr erlebt, wie die oberen Geschosse des Hochhauses zu einem der besten Fitnessstudios der Stadt umgebaut worden sind. Auch den Swimmingpool auf dem Dach hat sie nicht mehr nutzen können. Er hätte ihr gefallen. Da die Anlage des Pools auch ein flaches Becken mit wärmerem Wasser für ältere Menschen hat, komme ich mit meinen dann nunmehr 72 Jahren noch immer in den Genuss, mein Kreislauftraining Tag für Tag absolvieren zu können, ohne das Haus verlassen zu müssen. Die Fahrstühle zum Swimmingpool sind altengerecht rekonstruiert, sodass auch gehbehinderte Mieter den flachen Pool nutzen können.
Wenn ich mich nach meinem Schwimmprogramm im Relaxcenter niedergelassen habe, stehen mir freundliche junge Frauen im Kimono zur Seite. Sie wissen, dass mein Lieblingsplatz direkt am Fenster ist. Nachdem ich mich dort auf einer der wunderbaren Tatamimatten niedergelassen habe, packen mich eben diese freundlichen Frauen in große Tücher. Ich erfreue mich dann immer wieder an dem Blick auf den Volkspark Friedrichshain. Er ist entgegen allen Unkereien schöner denn je geworden, nach dem er 2007 wegen der Grillerei beinahe vollständig abgebrannt war. Auf der verbrannten Erde ist einer der schönsten Parks in ganz Berlin entstanden. Ich habe ihn mit eigenen Augen heranwachsen sehen. Asche sei eben das beste Düngemittel, sagten schon früher die Bauern. Der Baumbestand des Parks wurde mit viel Sachkenntnis ausgesucht, sodass es heute eine Lust ist, ihn anzusehen.
Die Parkverwaltung ist eine der wenigen Einrichtungen in Berlin, die kein Problem mit ihren freiwilligen Helfern hat. Im Gegenteil, es gibt lange Warteschlangen für die Absolvierung der fünfzehn Wochenstunden gemeinnütziger Arbeit, die inzwischen alle Berliner bis zur Vollendung ihres 60. Lebensjahres zu leisten haben. Der Eintritt in den Park ist ziemlich happig, schon deshalb arbeiten so viele Berliner gern dort. Auch ich kann es mir nur selten leisten, im Park spazieren zu gehen, es sei denn, es sind mal wieder "Tage des offenen Parks" in Berlin angesagt. Aber eigentlich brauche ich diese Tage nicht so dringend wie andere. Schließlich habe ich ja das große Privileg, das Fitnessstudio des Hauses zu nutzen. Ich warte daher gern, bis mein Lieblingslaufband mit Blick zum Park frei ist. Da ich oft hier oben laufe, ist nur ein Mindestmaß an Fantasie nötig, mir einzubilden, ich liefe tatsächlich im Park.
Ich bin so froh, dass die Innenstadt Berlins bewohnbar geblieben ist. Und das ist allein ein Verdienst der Stadtverwaltung. Die Beschlüsse zum gemeinnützigen Arbeitsdienst bis hin zu den freiwilligen Wachdiensten in beinahe allen Berliner Mietshäusern hat sich wohltuend auf das Leben in der Stadt ausgewirkt.
Imelda vom Fitnessstudio beugt sich über mich und fragt mit ihrer sanften Stimme, ob ich jetzt nicht meinen Eiweißdrink mit den Multivitaminen haben möchte. Ich mag Imelda dieser Stimme wegen. Sie kommt von den Philippinen. Nachdem ich ihn getrunken habe, verabschiede ich mich von ihr. Für Tai Chi bin ich erst morgen eingeteilt.
Ich habe also noch fünf Stunden Zeit, bevor mein Dienst in der Küche des japanischen Restaurants im Souterrain des Hauses beginnt. Ich bin dort mitverantwortlich für die Zubereitung des Reises. Eine Weiterbildungsmaßnahme für ältere Arbeitnehmer, finanziert von den neuen Besitzern des Hochhauses, hat es mir ermöglicht, diese Tätigkeit nun sachgerecht auszuführen. Als eine japanische Immobilienfirma das Hochhaus 2011 von der in Konkurs gegangenen Wohnungsbaugesellschaft erworben hatte, war eine Bedingung des Berliner Senats, dass soziale Härten vermieden werden müssten, schließlich stand das Schicksal von 850 Mietern in 280 Wohnungen auf dem Spiel.Die Japaner haben ihre Zusagen gehalten. Sie haben mit allen Mietern Gespräche geführt, wer nicht ausziehen wollte und einen Mietszuschuss brauchte, konnte wie ich im Haus arbeiten. Da ich meine Wohnung mit Blick zum Park liebe, habe ich mich für die Reisküche entschieden. Und ich habe es nicht bereut, zumal ich bald merken konnte, wie gesund auch für den Kreislauf es ist, vornehmlich Reis zu essen.
Manchmal treffe ich die Frau, die früher einmal meine Verwalterin war und die keine Erlaubnis bekam, mit mir über die Zukunft des Hochhauses zu sprechen. Sie wohnt nun jenseits des Parks in einer kleinen Gemeinschaftswohnung. Zweimal die Woche kommt sie durch den Hintereingang der Küche ins Restaurant und holt in großen Schüsseln Reis. Denn darauf legt der Restaurantbesitzer größten Wert, dass der angerichtete Reis, der unseren Gästen serviert wird, stets frisch zu sein hat.