"Was denn für eine Krise?"
Die Äußerungen des Altkanzlers Helmut Schmidt (SPD) in der "Sächsischen Zeitung" Anfang der Woche riefen starken Widerspruch hervor. Schmidt hatte ostdeutsche Rentner und deren "Weinerlichkeit" kritisiert. " Zum Kotzen" sei das Lamento über zu niedrige Renten, zumal die Bezüge ostdeutscher Frauen teilweise höher lägen als die der Frauen im Westen. "Vieles wird beklagt, was nicht beklagenswert ist," kommentierte Schmidt. Die Schriftstellerin Rita Kuczynski kam bei einer Befragung in den Neuen Ländern zu einem gegenteiligen Ergebnis: Ostdeutsche sind gelassener, krisenfester und vor allem reformerfahrener als die Brüder und Schwestern im Westen.
Von Rita Kuczynski erschien zuletzt der Band "Im Westen was Neues?" im Berliner Parthas Verlag.
Über das, was Helmut Schmidt "zum Kotzen" findet: Jammern die Ostdeutschen doch mehr?
Von Rita Kuczynski
Von wegen weinerlich: Verhindert nicht westdeutsche Bräsigkeit Reformen im Osten? Dort weiß man wenigstens, was "Krise" bedeutet. (Biskup)
Es gibt wahrscheinlich - Altbundeskanzler Helmut Schmidt zum Trotz - unter den Ostdeutschen nicht mehr Weinerlichkeit als unter den Westdeutschen. Denn: Weinerlichkeit ist eine gesamtdeutsche, also nationale Eigenschaft. Denkt man daher an die so dringenden Reformen Deutschlands in der Nacht, wird man kaum um den Schlaf gebracht. Man könnte angesichts der Besitzstände in Ost- und Westdeutschland selbst im Halbschlaf noch Wetten abschließen, in welchem Teil Deutschlands die Weinerlichkeit momentan größer ist: in den alten oder den neuen Bundesländern?
Im Wachzustand könnten ein paar Aussagen zur Entscheidungsfindung beitragen. Vor kurzem habe ich, zwar nicht mit "den Ostdeutschen", sondern nur mit zwanzig, sehr lebendigen Personen aus den neuen Bundesländern Interviews gemacht. Das Kriterium der Auswahl war, dass die Befragten von sich aus sagten, sie hätten die Einheit Deutschlands für sich persönlich als eine große Chance erlebt: Die dazu gewonnenen Freiheiten waren für sie ein großer Gewinn, ihr Leben endlich noch einmal selbst in die Hand zu nehmen. Während dieser Interviews habe ich allen auch die Frage gestellt: "Sehen Sie der augenblicklichen Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik eher gelassen oder eher ängstlich entgegen?"
Es erstaunt hoffentlich nicht, dass keiner der Befragten in Tränen ausbrach. Es gibt vielleicht zu denken, dass einige Gesprächspartner bei der Frage nach der Krise in Deutschland sogar auflachten und zurück gefragt haben: "Was denn für eine Krise? Da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt. Zum Beispiel den Umbruch 1989. Da war wirklich alles offen, nicht nur der Arbeitsplatz, da wurde erst einmal alles aufgelöst. Das war eine wirkliche Krise. Aber jetzt? Das ist doch alles nicht so dramatisch. Mir kann nicht viel weggenommen werden. Ich werde mit wenig Geld auskommen müssen. Das macht auch erfinderisch. () Aber ich sehe der augenblicklichen Krise in der Bundesrepublik mit Spannung entgegen. Denn jetzt wird sich zeigen, ob die neue, die gesamtdeutsche Republik eine Krise auch bewältigen kann. Es ist doch eine westdeutsche Mentalität, keine großen Veränderungen zu wollen. () Heute, nach fünfzig Jahren, werden erstmalig die Selbstverständlichkeiten der alten Bundesrepublik in Frage gestellt. Die westdeutschen Politiker heute sind fast alle nach dem Krieg geboren. Sie sind die Wohlstandskinder der Bundesrepublik. Sie haben nie wirklich harte Zeiten erlebt und keine der beiden deutschen Diktaturen. Ihr Gestaltungswille formiert sich auf bundesdeutschem Wohlstand." (Christina, Mathematikerin)
Kritisch, distanziert, mitunter auch ein wenig spöttisch, äußern sich die Gesprächspartner insbesondere über die Furcht der Verelendung ihrer westdeutschen Mitbürger: "Die Westdeutschen werden auf ihre Besitzstände, Häuser und dergleichen halt eine Vermögenssteuer zahlen. Mein Gott, tragisch ist das nicht, meine ich. Die Ostdeutschen trifft das nicht. Sie haben meist nichts. Sie erben nur selten und haben keine großen Renten. Sie müssen also auch keine Erbschaftssteuer zahlen." (Tanja, Studentin)
Einige der Befragten gehen in ihrer Antwort auf die Frage nach der Gelassenheit oder Ängstlichkeit gegenüber der augenblicklichen Wirtschaftskrise in Deutschland noch einen Schritt weiter und fürchten eher, um die Reformfähigkeit unter den Westdeutschen.
Vielleicht können die Westdeutschen von den Ostdeutschen lernen
Denn da gibt es, wie Alexander, ein Bankangestellter zu sagen weiß, eklatante Unterschiede zwischen den Belegschaften in den alten und denen der neuen Bundesländer. Unsere Angestellten sagte er, "haben in den letzten dreizehn Jahren sehr viele Veränderungen im politischen Umfeld und auch im Unternehmen erlebt. Es gab gerade in den neuen Bundesländern einen großen Umstrukturierungsprozess. Wenn zum Beispiel Personal abgebaut werden musste, verstehen unsere Mitarbeiter damit besser umzugehen, als die Mitarbeiter in den alten Bundesländern. Unsere Mitarbeiter sind veränderungsfähiger und auch -williger. Ich höre von Kollegen immer wieder, dass es in den alten Bundesländern sehr viel mühseliger ist, die Leute zu Veränderungen zu bewegen, weil sie schon 30 oder 40 Jahre an ein und demselben Platz sitzen und den gleichen Job machen. Wenn ich dagegen mein Team ansehe, gibt es niemanden, der vor fünf Jahren den Job machte, den er heute macht.
Er hat in den zehn bis dreizehn Jahren, die er bei der Bank ist, mindestens drei bis vier Veränderungen mitgemacht. Mit neuen Aufgabenfeldern kann er daher besser umgehen als jemand aus den alten Bundesländern, der vor 30 oder 40 Jahren nichts anderes gemacht hat, als er heute macht. Das heißt nicht, dass den Leuten bei uns Veränderungen nicht auch Angst machen"
Kann es sein, dass der mangelnde Gestaltungswille- beziehungsweise die Unfähigkeit vieler Altbundesbürger, die nicht mehr aufschiebbaren Reformen in Deutschland zu akzeptieren, inzwischen die Reformen in den neuen Bundesländern behindern?
Auf jeden Fall ist es an der Zeit, im Westen das Trugbild und Klischee über "die Ostdeutschen" aufzugeben. Dann könnte die dringend notwendige gesamtdeutsche Debatte über die Zukunft wirklich beginnen. Es würde den Bedürfnissen der Gegenwart entgegenkommen, wenn "die Ostdeutschen" nicht mehr als das, vielen Altbundesbürgern so lieb gewonnene Phantom des weinerlichen, immer jammernden, wenn auch gutmütigen, ostdeutschen Wesens wahrgenommen würden. Sondern, wenn sie als Neubürger akzeptiert würden, die in den letzten dreizehn Jahren mehr an gesellschaftlichem Umbruch und auch Brüchen zu bewältigen hatten, als alle Altbundesbürger zusammen in den letzten fünfzig Jahren.
Es könnte nämlich durchaus sein, dass die Ostdeutschen einiges aus ihren Erfahrungen im Umgang mit Brüchen und Umbrüchen in die Zukunft der Bundesrepublik einbringen könnten, das zur Bewältigung der gegenwärtigen Krise in Deutschland beiträgt. Vielleicht können die Westdeutschen von den Erfahrungen der Ostdeutschen lernen, dass die Aufgabe jahrzehntelang gehegter Gewohnheiten und sozialer Sicherheiten auch ein Gewinn sein kann?
Dann könnten die Zensuren für deutsche Weinerlichkeit neu verteilt werden. Dabei könnte herauskommen, dass es unter den Westdeutschen wahrscheinlich nicht mehr Weinerlichkeit gibt, als unter den Ostdeutschen. Käme es daher zu einem Länderspiel in Sachen Weinerlichkeit, würde es beiderseits wahrscheinlich nur Sieger geben.