Deutschland ist kein Vorbild mehr
Bei ihren osteuropäischen Nachbarn gelten Deutsche als unflexibel und wehleidig - aber nicht mehr als bedrohlich. Das ist eine Quintessenz des Interviewbandes "Ostdeutschland war nie etwas Natürliches". Herausgeberin ist die Berliner Publizistin Rita Kuczynski, Ex-Schwiegertochter des 1997 verstorbenen DDR-Intellektuellen Jürgen Kuczynski. Die 60-jährige Autorin befragte Kollegen, Journalisten und Gelehrte unter anderem aus Polen, Rumänien, der Slowakei, Estland, Russland, Bulgarien sowie Slowenien zum wiedervereinigten Deutschland, und es zeigte sich: Die Bundesrepublik, einst zumindest wegen ihrer Wirtschaftskraft geschätzt, ist kaum noch Vorbild. "Die Deutschen sind verwöhnt, sie denken tatsächlich: Wir sind die Besten", sagt etwa der Journalist Urmas Klaas aus Estland. Dabei liege das Bildungssystem im Argen, es gebe zu viel Bürokratie und zu wenig Flexibilität. Klagen über Armut und Perspektivlosigkeit aus den fünf neuen Bundesländern stoßen auf Unverständnis. "Die Ostdeutschen haben sich annektieren lassen und waren zunächst ganz zufrieden mit der Deutschen Mark und mit der Banane. Die anderen postkommunistischen Staaten fühlen sich vor den Kopf gestoßen, wenn sie die Ostdeutschen jammern hören", erklärt der bulgarische Publizist Alexander Andreev. Die Nachbarn, so der Tenor, hätten die Umbrüche seit 1989 ganz alleine durchstehen müssen, ohne "reichen Onkel" im Westen, wie der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej sagt. Durchweg positiv beurteilen Kuczynskis Interviewpartner hingegen die Birthler-Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit.
Angst vor deutschen Großmacht-Ambitionen oder vor Revisionismus äußert keiner. Die Wiedervereinigung wird überwiegend als eine historische Notwendigkeit ohne Alternative gewertet. Drastisch bringt es der polnische Publizist Adam Krzeminski auf den Punkt: Die DDR sei letztlich ein "Furz der Geschichte" gewesen.