Lernen und lernen lassen
Rita Kuzcynski hat wieder überaus interessante Interviews geführt. Und diesmal wechselte sie die Perspektive. Gaben ihr in den Büchern "Die Rache der Ostdeutschen" (2002) und "Im Westen was Neues – Ostdeutsche auf dem Weg in die Normalität" die Ostdeutschen Auskunft über ihre Befindlichkeiten im Zusammenhang mit dem Mauerfall, der deutschen Einheit und dem wachsenden Europa, kommen nun die zu Wort, die von all dem mindestens genauso betroffen sind: nämlich Menschen aus Frankreich, Großbritannien, den USA, Estland, Bulgarien, Polen, Rumänien, Russland, Slowenien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. Rita Kuczynski hat in allen Ländern Deutschlandkenner gesucht und gefunden. Die ältesten, der tschechische Historiker Bedrich Loewenstein und der ehemalige estnische Staatspräsident Lennart Meri, sind Jahrgang 1929, der jüngste, der rumänische Wissenschaftler Theodor Paleologu, ist Jahrgang 1973. Es überwiegt jedoch die Altergruppe der 45- bis 60-Jährigen. Sie alle fördern Erstaunliches zutage, wie dem Klappentext zu entnehmen ist: "1. Die ehemaligen DDR-Oppositionellen und auch der Westen haben die Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung idealisiert. 2. Eine Bedrohung der Welt durch ein wiedervereinigtes Deutschland gab es nicht. 3. Die deutsche Demokratie war durch Nazis nie gefährdet. 4. Die ökonomischen Startbedingungen bei der Eingliederung der Ex-DDR in die westeuropäische Wirtschaft waren wirklich nicht so extrem schwierig, wie oft behauptet.
Auch wenn sich die Texte im Buch dann doch etwas differenzierter lesen. Die Richtung stimmt wohl. Und so muss auch die Präsidentin der Europa-Universität Viadrina Gesine Schwan in ihrem Vorwort einräumen: "Was die Experten dann allerdings in den Interviews über die Entwicklung in Ostdeutschland und den mental-moralischen Zustand der Ostdeutschen sagen, dürfte diesen nicht unbedingt schmeicheln." Den Ostdeutschen ist zu viel geschenkt worden – vom Rechtsstaat, über den Aufbau Ost bis zur EU-Eingliederung, darin sind sich die Interviewten einig. Und auch wenn bei einigen ein wenig Neid auf den für sie nicht vorhandenen westlichen Bruder mitschwingt, so trauern sie dem keineswegs nach. Im Gegenteil, sie sind stolz, aus eigenen Kraft den Neuanfang nach dem Zerfall des Sozialismus geschafft und eine eigene Identität entwickelt zu haben. "Wichtig war für uns, dass wir für diese Ziele hart arbeiten mussten und dass wir nichts umsonst bekamen. Daher sind wir glücklicher als die Ostdeutschen", sagt z.B. des Este Urmas Klaas, Abteilungsleiter im Ministerium für Bildung und Wissenschaft. Die französische Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Le Gloannec freut sich, wie wohl alle Befragten, über die gelungene deutsche Einigung. Doch sie fragt auch: "Hätten die Westdeutschen nicht die Chance nutzen sollen, um auch in Westdeutschland Reformen einzubringen?" Und sie bedauert die Arroganz der Westdeutschen und das falsche Bild der Ostdeutschen von Westdeutschland Es gab gewiss so manches Nachahmenswerte im Osten, über das wenigstens hätte nachgedacht werden müssen. Aber in unsicheren Zeiten seien eben auch "feste Strukturen notwendig" gewesen.
Gesine Schwan weist auf eine "merkwürdige Doppelwahrnehmung" in der bundesdeutschen Rezeption hin, die auch in den Interviews mehrfach angesprochen wird: "Die Einheit Deutschlands und das Ende der Kommunistischen Diktatur" werden oft als "zwei verschiedene Phänomene" gesehen. "Die deutsche Einheit mit allen ihren Fogediskursen primär sozial- und wirtschaftspolitischer Natur läuft parallel zur Diskussion um die notwendigen politischen Veränderungen im geeinten Europa, die sich eher um das Stichwort der Gorvernance ranken." Es passiere eine "Entkoppelung im Denken" und es bleibe zu wenig Zeit und Kraft für "den weiteren Blick auf die neue Topografie der europäischen Landkarte".
Urmas Klaas fordert ganz offen: "Die Europäische Union sollte unbedingt die augenblickliche Unschuld der neuen Länder nutzen. Auf Grund dieser Unschuld können wir einiges zusammendenken und zusammenbringen, was den jahrzehntelangen Gewohnheiten der alten EU widerspricht und die EU voranbringen könnte."
Also weg von der deutsch-deutschen Nabelschau hin zur europäischen Sicht! Rita Kuczynski leistet mit ihrem neuen Buch dazu einen wichtigen Beitrag.