Von den Ossis lernen
Die Schriftstellerin Rita Kuczynski über gesamtdeutsche Weinerlichkeit und Krise
Rita Kuczynski hat in ihrem neuen Buch Ostdeutsche nach den Erfahrungen im letzten Jahrzehnt befragt und stellt fest: Sie sind gelassener, umbrucherfahrener, krisensicherer als mancher Westdeutsche.
Irrt sich Altkanzler Helmut Schmidt, wenn er Ostdeutschen Weinerlichkeit vorwirft?
Es gibt wahrscheinlich unter den Ostdeutschen nicht mehr Weinerlichkeit als unter den Westdeutschen. Denn es ist eine gesamtdeutsche, also nationale Eigenschaft. Man könnte angesichts der Besitzstände selbst im Halbschlaf noch Wetten abschließen, in welchem Teil Deutschlands die Weinerlichkeit momentan größer ist: in den alten oder den neuen Bundesländern.
Ist in der jetzigen Situation ein Lamento nicht angebracht?
Ganz Deutschland steht vor einer Zäsur, der Sozialstaat wird um- und abgebaut, das Land steckt gesamtdeutsch in der Krise. Doch da können Wessis jetzt durchaus etwas von den Ossis lernen – zum Beispiel, wie man Krisen durchsteht. Ostdeutsche hatten in den letzten dreizehn Jahren mehr an gesellschaftlichem Umbruch und auch an Brüchen zu bewältigen als alle Altbundesbürger zusammen in den letzten fünfzig Jahren. Vielleicht könnten die Westdeutschen von den Erfahrungen der Ostdeutschen lernen, dass die Aufgabe jahrzehntelang gehegter Gewohnheiten und sozialer Sicherheiten auch ein Gewinn sein kann?
Das ist Ihre Erfahrung nach den Interviews für Ihr Buch?
Ja, die Leute haben mitunter aufgelacht, wenn ich sie fragte: Was halten Sie von der gegenwärtigen Krise? Sie haben zurückgefragt: Was denn für eine Krise? Eine Frau meinte: „Damals ging es um mein Leben. Heute geht es nur um mein Wohlleben, leiste ich mir eine größere oder eine kleinere Wohnung.“ Ein 39-jähriger leitender Bankangestellter antwortete auf die Frage, ob sich die Ostdeutschen produktiv in den Reformprozess einbringen können: Unbedingt, dank ihrer Flexibilität und Mobilität. Von seinen 25 ostdeutschen Mitarbeitern hat keiner vor fünf Jahren die Arbeit gemacht, die er heute macht. Das sieht bei den westdeutschen Bankangestellten ganz anders aus. „Setzen Sie mal jemanden um, der in Mannheim 30 Jahre an einem Arbeitsplatz gesessen hat“, sagte er. Auf jeden Fall ist es an der Zeit, im Westen das Trugbild und Klischee über „die Ostdeutschen“ aufzugeben. Dann könnte die dringend notwendige Debatte über die Zukunft wirklich beginnen. Ostdeutsche könnten ihre Erfahrungen einbringen – wenn ihnen nicht das Wort abgeschnitten wird. Aber ich bin optimistisch; die Menschen hier sind selbstbewusster geworden.
Die neue Ostalgiewelle weckt bei vielen Erinnerungen. Warum kommt die Erinnerung so spät?
In den ersten Jahren mussten die Ostdeutschen agieren und funktionieren, um Arbeit und Wohnung zu behalten. Zum Erinnern hatten sie schlicht keine Zeit. Hinzu kam, was sich kaum ein Westdeutscher ausmalen kann: Der gesamte Alltag änderte sich schlagartig mit der Einführung der D-Mark und dem Systemwechsel. Nichts, nicht einmal Brot und Salz, war wie vorher. Man stelle sich das umgekehrt vor: Die Westdeutschen hätten sich von heute auf morgen mit nur einem Waschmittel namens Spee abfinden müssen.
Das wünscht sich wohl keiner!
Nein, aber die Vorstellung hilft, das Problem zu verstehen. Mitte der 90er Jahre wechselte ja auch der Inhalt der Dokumentarfilme und Sachbücher über die DDR. Von der Aufzeichnung des politischen Unrechts in der sozialistischen Diktatur sind sie jetzt beim Aufzeigen der menschlichen Dramen von DDR-Regierenden angekommen. Es geht um „Honecker privat“ oder um „Selbstzeugnisse von Lotte Ulbricht“. An „Mielke und sein Hund“ hat sich noch keiner herangewagt. All das hat aber eigentlich nichts mit dem Leben in der DDR zu tun. In solchen Filmen ging es meist um Regierende und um Privilegierte. Sie haben zwar angeordnet, wie gelebt wurde, lebten aber selbst beispielsweise in Wandlitz. Ich glaube, da setzen die Ostalgieshows an.
Warum finden sie solchen Zuspruch?
Es gibt jetzt ein breites Bedürfnis, die andere, die Alltagserinnerung an die DDR zurückzuholen. Dabei kommt augenblicklich heraus: Es war ja nicht alles so schlecht. Die Ostalgiewelle hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass die Medien ihr eigenes Bild von der DDR gezeichnet haben, in dem sich viele Ostdeutsche nicht wiederfinden. In den ersten Jahren nach der Wende hat ironischerweise die PDS diesen Umstand genutzt, um die so genannte DDR-Identität zu konstituieren.
Meinen Sie denn, dass es vorher keine DDR-Identität gab?
Zu DDR-Zeiten wollte man doch eher nicht DDR-Bürger sein. Wer nach Polen oder Bulgarien fuhr, zog es vor, seine Herkunft zu verbergen. Einen richtig stolzen Ostdeutschen habe ich damals jedenfalls nicht getroffen. Den gab es nur in der „Aktuellen Kamera“.
Was halten Sie von den recht unterschiedlichen Deutungen der DDR-Geschichte in jüngsten Büchern?
Spätestens seit Jana Hensels „Zonenkinder“ haben sich die zur Wendezeit 13-Jährigen zu Wort gemeldet. Das ist nachvollziehbar, denn sie sind nun erwachsen und erinnern sich – unabhängig vom politischen System – ihrer Kindheit. Fragwürdig wird es für mich, wenn diese Generation die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte und die DDR-Erinnerungswelt erhält. Wenn also die damals 13- bis 18-Jährigen uns heute erklären, wie die DDR war. Aber als Philosophiehistorikerin weiß ich: Das ist eine Phase. Sie geht vorüber. Geschichte wird ohnehin alle zehn bis 15 Jahre umgeschrieben, weil es Geschichtsschreibung an sich nicht gibt. Sie ist immer eingewoben in den Zeitgeist.
Fragen: Thomas Kunze, Karin Großmann