Mechthild Küpper in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.10.2003, Nr. 43 , S. 4
Die PDS will ganz normal werden
Doch damit begibt sich die SED-Nachfolgerin auf den Weg in die Bedeutungslosigkeit
"..."Die Rache der Ostdeutschen" nannte die Berliner Schriftstellerin Rita Kuczynski im vorigen Jahr ihr Buch über Berliner PDS-Wähler. "Wenn es nach mir ginge", sagt darin eine 54 Jahre alte Frau, "sollte es endlich auch einen Friedhof für die ,Opfer des Kapitalismus' geben. Denn wenn man die Menschen zusammenzählt, die an der Wende und an dem, was danach kam, zerbrochen sind, wenn man die hinzunimmt, die sich totgesoffen haben, müßte dieser Friedhof sehr groß sein." Das ist der Sound des Lebensgefühls, das die PDS ermöglichte. Das Geheimnis ihres Erfolgs bestand in der Vermarktung dieses Gefühls als einer, wie Kuczynski es nennt, "virtuellen Realität". Nach der Revolution verarbeiteten viele den Schock, den Verlust der Privilegien, die Abwesenheit des fürsorglichen Staates und die Zumutungen des neuen mit der Hinwendung zu einer neu-alten Partei, die jeden willkommen hieß: Bürgerrechtler und Umweltaktivisten, die die SED noch bis zum 9. November verfolgt hatte, aber auch ehemals Angepaßte, die sich in den neuen Verhältnissen nicht zurechtfanden; kleine Stasi-Spitzel ebenso wie Egon Krenz, den Nachfolger Honeckers.
Wie wenig die verschiedenen PDS-Milieus miteinander verband, blieb mit Bedacht unbesprochen. Hinter den Auftritten des lustigen Gysi und des melancholischen Bisky herrschte ein absichtsvoller Wirrwarr der Begriffe und der sozialen Aromen. Als der Kleine mit den Brombeeraugen und der großen Schnauze nach wenigen Monaten als Berliner Wirtschaftssenator zurücktrat, gab er die Sicht frei auf die Wirklichkeit: Der Privatier Gysi ist ein erfolgreicher Anwalt und Publizist, der viel Geld damit verdient, den Rächer der Enterbten zu geben. Und die PDS ist eine Partei, die auch nicht weiß, wie linke Politik heute beschaffen sein sollte. Kürzlich hat Rita Kuczynski ein neues Buch vorgelegt: "Im Westen was Neues? Ostdeutsche auf dem Weg in die Normalität". Dorthin wird die PDS ihnen wohl folgen.
HENRIK M. BRODER in SPIEGEL spezial Nr. 3 / 2003, S. 79 f.
Mut zum Wechsel
Rita Kuczynski hat die Geschichten ehemaliger DDR-Bürger gesammelt, die den Sprung ins größere Deutschland oder ins Ausland geschafft haben.
Der Ossi als solcher jammert gern, geht der Arbeit möglichst aus dem Weg und denkt am liebsten über seine Identität nach, die ihm mit der Wiedervereinigung abhanden gekommen ist. Er ist im Grunde gutmütig, und wenn er mal böse wird, dann wählt er die PDS, um sich an den Wessis für das erlittene Unrecht zu rächen. So ist der Ossi, so kennen wir ihn, so haben wir ihn gern. Was aber machen wir mit denjenigen, die anders sind? Wir ignorieren sie.
Die Wähler in den neuen Bundesländern wählen zu 80 Prozent nicht die PDS. Sie sind "medial uninteressant", sagt Rita Kuczynski, 59, denn "sie verhalten sich so wie die übergroße Mehrheit der Bundesbürger in den alten Ländern". Die Berliner Hegel-Expertin arbeitet seit der Wende an Projekten im philosophischen Diesseits: Wie ticken die Ostdeutschen, und was unterscheidet sie, wenn überhaupt, von den Westdeutschen?
Vor einem Jahr legte sie ein Interview-Buch vor ("Die Rache der Ostdeutschen"), in dem 20 Ost-Berliner Wähler begründeten, warum sie die PDS gewählt hatten. Der Witz bei der Sache lag darin, dass es nicht gescheiterte Existenzen oder alte Parteisoldaten, sondern zum großen Teil Wendegewinnler waren, denen es besser ging als je zuvor und die sich trotzdem diskriminiert fühlten. Nun kommt die Fortsetzung der Saga auf den Büchertisch: 18 Gespräche mit ehemaligen Bürgern der DDR, die bei der letzten Bundestagswahl nicht die PDS gewählt haben, für die der Fall der Mauer auch ein persönlicher Glücksfall war und die "rückblickend froh sind, dass sie nun in der Bundesrepublik leben".
Wie immer und überall im Leben geben Menschen, die sich darüber beschweren, dass es ihnen gut geht, mehr her als solche, die zufrieden sind und nur auf punktuelle Missstände hinweisen. Deswegen war der erste Band wesentlich unterhaltsamer, während der zweite eine Position variiert: "Danke der Nachfrage, ich bin in der Bundesrepublik gut angekommen." Es ist, als würde sich ein Reporter auf einem Flughafen hinstellen und darüber berichten, dass ein Flugzeug nach dem anderen problemlos gelandet ist. Eine anständige Story käme aber nur dann zu Stande, wenn ab und zu ein Flieger abschmieren oder wenigstens das Fahrwerk verlieren würde. Only bad news are good news.
Rita Kuczynski will freilich auf etwas anderes hinaus. Die Westdeutschen könnten einiges von den Ostdeutschen lernen, die sind flexibler, kommen mit Krisen besser zurecht und geraten nicht in Panik, wenn sie alte Gewohnheiten aufgeben müssen. Sie haben es gelernt, mit weniger auszukommen und den Mangel gerecht zu verteilen. Was die Ostdeutschen hinter sich haben, das haben die Westdeutschen noch vor sich: die Erfahrung eines Umbruchs.
"Die westdeutschen Politiker heute sind fast alle nach dem Krieg geboren", meint eine Mathematikerin, die nach der Wende ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden war, "sie sind die Wohlstandskinder der Bundesrepublik, sie haben nie wirklich harte Zeiten erlebt und keine der beiden deutschen Diktaturen."
Und noch etwas ist ihr aufgefallen: "Die West- und die Ostlesben gehen sich ... aus dem Wege. Man erkennt sich, aber man kommt nicht zusammen."
Ein Ökonom, der in der DDR Suaheli gelernt und über die wirtschaftliche Entwicklung Tansanias seine Diplomarbeit geschrieben hatte, war nach dem Mauerfall erst einmal "fassungslos", er war "mit der Mauer aufgewachsen, sie war so von Gott gegeben": Doch er kam bald wieder zu sich, schlug ein Angebot aus, Bezirksleiter bei Aldi zu werden, und machte Karriere bei einer Bank, die ihn zuerst in die USA und dann nach Moskau schickte. Heute arbeitet er in leitender Funktion in Leipzig und möchte, dass die 40-Stunden-Woche wieder eingeführt wird, "und zwar bei gleichen Rahmenbedingungen". Angst vor der Zukunft kennt er nicht, obwohl er der Regierung nicht zutraut, mit der Krise fertig zu werden.
"Veränderung hat bisher zu meinem Leben gehört, und ich habe auch immer Spaß daran gefunden. Ohne Veränderungen würde mir etwas fehlen." Ein Handwerker, der vor der Wende in Thüringen eine kleine Keramikwerkstatt betrieb, machte mit einem chinesischen Bekannten eine Firma in Peking auf, zog später nach Hongkong und reiste dann "kreuz und quer durch China", wo er seine Produkte "erfolgreich" verkaufte. Heute ist ihm klar: "Ich war viel zu lange im falschen System, und es ist schade, dass ich nicht schon früher den Mut zum Wechsel hatte. Aber nun bin ich da, wo ich hin wollte ..."
Auch wenn die Geschichten, die Rita Kuczynski aufgeschrieben hat, nicht repräsentativ sind, es sieht aus, als hätten Ostdeutsche das Talent, Gelegenheiten im Vorübergehen zu ergreifen, während Westdeutsche eher dazu neigen abzuwarten, bis sie an der Reihe sind. Nicht auszudenken, was aus der DDR geworden wäre, wenn sich solche Begabungen beizeiten hätten entfalten können.
Von Utopien und Visionen wollen sie nichts mehr wissen. Einige sorgen sich, aus der Bundesrepublik könnte eine zweite DDR werden, unbeweglich und unreformierbar. Jetzt geht es darum, das Machbare zu verwirklichen. Nur eine Historikerin, die in Rostock über Feudalismus forschte und lehrte und bis zum Schluss in der SED aktiv war, wünscht sich mehr: "Das Ende der Postmoderne, das Ende der unbeschränkten Herrschaft der USA und das Ende der Autogesellschaft."
Gott sei Dank, es gibt noch Ossis, die das Träumen nicht verlernt haben.