HENRYK M. BRODER in DER SPIEGEL 28/2002
Freies Trauma
Eine Sammlung von 20 lockeren Tischgesprächen unter dem Titel "Die Rache der Ostdeutschen" bietet tiefe Einblicke in die Seelen von PDS-Wählern.
In ihrem früheren Leben war Rita Kuczynski, 58, Philosophin, spezialisiert auf Hegel und "die Dinge an sich". Als Schwiegertochter des bekanntesten Nationalökonomen der DDR, Jürgen Kuczynski, lebte sie "in einer privilegierten Situation", mitten in der DDR und doch am Rande des Systems. Seit der Wende ist alles anders. "Heute bin ich Schriftstellerin und erzähle über das Leben."
In ihrem neuen Buch "Die Rache der Ostdeutschen" lässt sie erzählen*. 20 Bürger der ehemaligen DDR, Einwohner von Ost-Berlin und Sympathisanten der PDS, öffnen ihre Herzen, erinnern sich an ihr behütetes Leben in der DDR und legen ihre Post-DDR-Traumata frei. Kern aller Interviews ist die Frage, warum sie bei den letzten Berliner Wahlen die PDS gewählt haben - wie jeder zweite Ost-Berliner Wähler. Die Auswahl der Gesprächspartner ist natürlich nicht repräsentativ, aber die Ergebnisse, sagt Kuczynski, "sind übertragbar auf das ganze PDS-Milieu", ein irrationales Gemisch aus Heimweh, Entfremdung und dem ewigen Gefühl, über den Tisch gezogen worden zu sein, das sich umso stärker artikuliert, je besser es den Leuten geht. "Ich wollte einfach hören, was sie sagen. Und ich war tief erschrocken." Vor allem darüber, wie die Vergangenheit kollektiv neu organisiert werde, mit Hilfe der PDS.
Dabei sind es nicht die Zukurzgekommenen, die sich eine andere DDR-Geschichte zusammenleimen, sondern gerade diejenigen, die es geschafft haben.
Zum Beispiel Ramona, 31, Model; sie hatte "Außenhandelskauffrau" gelernt und im Fach "Russische Planwirtschaft" abgeschlossen. Zwei Monate später kam die Wende und Ramona, die "nebenbei schon gemodelt" hatte, ging zu einer Modelagentur nach Paris, später in die USA. Heute jettet sie durch ganz Europa, das Handy immer griffbereit. Doch von Zufriedenheit keine Spur. "Die trällernden Brüder und Schwestern, die da mit offenen Armen auf uns zugingen, kamen doch nur, weil hier billig etwas zu holen war."
Ramona wählt PDS, denn "die PDS ist heute die einzige Partei, die die Interessen der Ostler wahrnimmt". Inzwischen habe sie gelernt, "wie man im Westen durchkommt, ohne seine Würde zu verlieren".
Lutz, 48, Ingenieur für Bekleidungstechnik und einst hauptamtlicher Parteisekretär, will sich "die DDR nicht schlecht machen lassen von Leuten, die nicht wissen, wovon sie reden". Er war "die meiste Zeit glücklich", hatte "eine schöne Wohnung in Marzahn", es gab mehr Sicherheit und mehr Abwechslung. "Zu DDR-Zeiten war das irgendwie spannender. Man wusste, wenn man in die Kaufhalle ging, noch nicht, was man morgen essen kann, weil man nicht wusste, was im Angebot ist."
So wird sogar aus der Erfahrung der Mangelwirtschaft eine schöne Erinnerung an bessere Zeiten. Auch Fritz, 33, Autor, der nach der Wende "viel gereist" ist, war in der DDR glücklicher: "Ich vermisse es, ernst genommen zu werden. Früher hat man was bewirken können, wenn man was gesagt hat. Heute kann man alles schreiben. Es interessiert aber niemanden."
Trotzdem hat Fritz einen revolutionären Plan entworfen, wie man das Leben menschenwürdig gestalten könnte. "Etwa 1500 DM im Monat sollte jeder bekommen, ohne dass er verpflichtet ist, sich um Arbeit zu kümmern. Der Zwang zur Arbeit muss abgeschafft werden. Arbeitszwang ist menschenverachtend." Wolfgang, 29, gelernter Zimmermann, war über den Fall der Mauer so "fassungslos", dass er erst "zwei Wochen später" sein Begrüßungsgeld holte. Vor zwei Jahren ist er in die PDS eingetreten. "Ich bin Kommunist, ich kann noch nicht genau sagen, was das ist, aber auf jeden Fall habe ich nichts gegen Behinderte, gegen Ausländer, und ich bin gegen rechts."
Kuczynskis Gespräche mit PDS-Wählern könnten streckenweise auch eine Satire auf den "ewigen Ossi" sein. Es geht ihm schlecht, weil es ihm gut geht. Man hat ihn gezwungen, das selbstbestimmte Elend gegen den fremdbestimmten Luxus zu tauschen. Marianne, 56, Ärztin, sagt: "Heute haben wir mehr Geld, als wir brauchen", dennoch fühlen sich "die Ostler heute erniedrigt, natürlich geht es ihnen besser, aber wie man ihnen das klar macht, ist unerträglich", so "als würde ein armer Verwandter in eine reiche Familie hereinkommen, er wird angezogen, man gibt ihm zu essen".
Aber er gehört nicht dazu. Das war in der DDR anders. "Niemand war ausgeschlossen. Wenn man von den wenigen absah, die in den Gefängnissen gesessen haben oder in den Westen abgeschoben wurden, gab es keine Ausgestoßenen."
Ob die PDS-Wähler vor- oder zurückblicken, ob sie darüber nachdenken, woran die DDR zu Grunde gegangen ist oder wie man die kapitalistische Bundesrepublik reformieren könnte, sie produzieren immer einen trotzigen Relativismus.
"In der DDR sind zwar an der Mauer Menschen gestorben, das war nicht gut so", sagt Marion, 54, Liedermacherin, "aber ich glaube, inzwischen sind auf dem Gebiet der ehemaligen DDR viel mehr Menschen an der Einheit gestorben als an der Mauer. Ich meine, sie sind an Selbstmord, Verzweiflung und Arbeitslosigkeit zu Grunde gegangen." So gesehen, war die DDR doch die bessere Alternative zur BRD, wo sich "niemand darüber aufregt, dass die Reichen von ihrem Reichtum nichts an die Obdachlosen abgeben wollen".
Was Rita Kuczynski ihren Gesprächspartnern entlockt, ist im Detail nicht neu, aber in der Verdichtung erschreckend. Bei Tischgesprächen mit Pasta und Wein ließ sie ein Band mitlaufen, hörte zu und widersprach nur selten. "Einem Journalisten aus dem Westen gegenüber hätten sie nicht so geredet, aber ich habe einen natürlichen Bonus, ich war, wie sie, eine gute DDR-Bürgerin."